Kasseler Soziologen: Regelflut behindert Jugendämter
Wenn Kinder Gewalt erfahren, wird schnell den Jugendämtern Versagen vorgeworfen. Doch an die Ämter werden Erwartungen gestellt, die sie derzeit gar nicht erfüllen können, sagen Kasseler Wissenschaftler – und Reformen verkomplizierten die Lage noch.
Das Thema ist bedrückend, die Reaktion oftmals reflexhaft: Werden Kinder im Familienumfeld vernachlässigt, misshandelt, gar tot aufgefunden, erhebt die Presse schnell Vorwürfe gegen die zuständigen Jugendämter:
Zu spät reagiert, falsch reagiert, gar nicht reagiert, heißt es dann oft in Großbuchstaben. In anderen Fällen wird die entgegengesetzte Kritik laut: dass nämlich Jugendämter vorschnell in das Erziehungsrecht von Eltern eingriffen. Wissenschaftlich ist bislang nur spärlich untersucht worden, wie handlungsfähig Jugendämter und andere intervenierende Organisationen tatsächlich sind – jenseits von Einzelfällen individuellen Fehlverhaltens durch Mitarbeiter. Prof. Dr. Ingo Bode, Leiter des Fachgebiets Sozialpolitik am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel, hat gemeinsam mit dem Soziologen Hannu Turba im Zuge des Forschungsprojekts „SKIPPI – Sozialsystem, Kindswohlgefährdung und Prozesse professioneller Interventionen“ eine Bestandsaufnahme gemacht. Das Ergebnis: Jugendämter bewegten sich in einem Feld von widerstreitenden Ansprüchen, Erwartungen und Rahmenbedingungen – und paradoxerweise verschärfen jene Reformversuche, mit denen die Politik seit einiger Zeit auf tragische Vorkommnisse reagiert, die Lage noch weiter.
Die organisierte Jugendhilfe bewege sich in einem Gewirr von Regeln, Rechtsgütern und Zuständigkeiten, erklären die Forscher. Zudem werde an die Jugendämter gleichzeitig unvereinbare Erwartungen gestellt: einerseits ein Wächteramt auszuüben, andererseits Familien zu erziehen. „Der Verlauf von Betreuungsfällen ist kaum vorhersehbar; die Entwicklung der betreuten Kinder ist oft sprunghaft, viele Eltern geben diffuse Signale von sich“, sagt Bode, der daher von den Betreuungsfällen als „moving targets“ spricht, auf die die Jugendhilfe häufig nur ad hoc reagieren könne. Im Gegensatz dazu stehen Organisationsvorgaben und die Ressourcenausstattung in den Ämtern, die diese Wirklichkeit unzureichend berücksichtigten. Dieses Spannungsfeld spitze sich gegenwärtig noch zu: Durch einen inzwischen in der Medienöffentlichkeit immer wieder vorgetragenen „Defizitverdacht“ gerieten die Ämter zunehmend unter Druck. Die Mitarbeiter seien verunsichert, zudem ergebe sich aus den politischen Vorgaben ein doppeltes Dilemma, das Bode und Turba als „Kalkulierung des Unkalkulierbaren“ und „Formalisierung des Informellen“ bezeichnet: Zielvereinbarungen, standardisierte Diagnosetabellen, Falldurchschnittskosten, mehr Dokumentationspflichten, erhöhte Verwaltungs- und Managementaufgaben. „Doch Unsicherheit und Unplanbarkeit werden durch mehr Kalkulation und Formalisierung nicht besser beherrschbar“, so Bode. „Im Gegenteil: Durch ein starres Korsett werden den Mitarbeitern Spielräume genommen, auf wechselnde Situationenspontan und fallweise zu reagieren.“
Die Forscher ziehen ihre Schlüsse aus umfangreichen Befragungen von Angestellten der Ämter, Mitarbeitern des Allgemeinen Sozialen Dienstes und anderen Akteuren der organisierten Jugendhilfe. Diese Befragungen waren ein Teil des Projekts SKIPPI, das die Universität Kassel gemeinsam mit der Universität Wuppertal von 2010 bis 2013 durchgeführt hat. Gefördert wurde das Projekt von der DFG mit rund 350.000 Euro.
Kontakt:
Prof. Dr. Ingo Bode
Universität Kassel
Fachgebiet Sozialpolitik
Tel.: +49 561 804-2923
E-Mail: ibode@uni-kassel.de