Offener Brief an den Ministerpräsidenten
des Landes Niedersachsen
Herrn Christian Wulff

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Wulff,

mit großen Irritationen hat der Landeselternrat Niedersachsen registriert, dass Sie den Vorstoß der FDP aufgegriffen haben, den freien Elternwillen bei der Schulwahl für die weiterführenden Schulen einzuschränken. Ohne Not wird hier eine Diskussion angezettelt, die an den wirklichen Problemen an unseren Schulen vorbeigeht.

In der jetzt laufenden Diskussion wird immer wieder von Vertretern der Regierungsfraktionen der Eindruck erweckt, viele der aktuellen Probleme im niedersächsischen Schulsystem würden dadurch ausgelöst, dass überehrgeizige Eltern ihre Kinder an Schulen schicken, an die sie nicht „gehören“, an denen sie überfordert sind. Dabei ist es durchaus nachvollziehbar, dass Eltern ihren Kindern einen möglichst hochwertigen Schulabschluss ermöglichen möchten. Die vorliegenden Zahlen - auch zu den Klassenwiederholungen - legen jedoch keineswegs den Schluss nahe, dass sich eine Vielzahl von Schülern an Schulen befindet, deren Anforderungen sie nicht gewachsen sind. Ganz im Gegenteil bestehen viele Schüler erfolgreich an Schulen, für die sie keine Empfehlung der Grundschulen bekommen hatten.

Es besteht gar kein Zweifel daran, dass die Lehrkräfte mit ihrer Schullaufbahnempfehlung oft durchaus richtig liegen. Und meistens folgen die Eltern auch der Schullaufbahnempfehlung. Wenn sich aber die Eltern entgegen der Schullaufbahnempfehlung entscheiden, dann liegen allerdings meistens die Eltern richtig. Dass Eltern häufig sicherere Entscheidungen bei der Schulwahl für ihre Kinder treffen, als es die Grundschullehrkräfte vermögen, belegen auch Untersuchungen an niedersächsischen Schulen aus dem Jahre 2006. Damals waren 2 Jahre nach der Einschulung auf die weiterführenden Schulen 59% der Schülerinnen und Schüler, die mit einer Hauptschulempfehlung in die Realschule übergegangen waren, ohne Wiederholung in die 7. Klasse versetzt worden. An den Gymnasien wurden sogar 68% der Schülerinnen und Schüler mit Realschulempfehlung ohne Wiederholung in die 7. Klasse versetzt.

Aus Sicht des Landeselternrates ist einer Verbesserung der Zuverlässigkeit der Schullaufbahnempfehlungen absolute Priorität vor Zwangsmaßnahmen einzuräumen. Hierzu sind eine direkte Kommunikation zwischen Elternhaus und Schule, aber auch Untersuchungen zur Zuverlässigkeit der Empfehlungen unabdingbar. Noch im August war aus dem Kultusministerium verlautet worden, dass es in den letzten Jahren keine landesweite Abfrage zum Schulerfolg im Zusammenhang mit den Schullaufbahnempfehlungen gegeben hat. Aufgrund des damit verbundenen zusätzlichen Arbeitsaufwandes sei auch keine landesweite Befragung geplant. An Niedersachsens Schulen wird so viel von Evaluation geredet, aber ausgerechnet an der wesentlichen Schnittstelle beim Übergang auf die weiterführenden Schulen soll sie nicht vonnöten sein? Das ist für uns nicht nachvollziehbar. Warum soll Schullaufbahnempfehlungen eine Verbindlichkeit verliehen werden, wenn nicht klar ist, wie zuverlässig sie überhaupt sind?

Mittlerweile verkündet auch ihre Kultusministerin, Frau Heister-Neumann, dass der Elternwille bei der Entscheidung beim Übergang auf die weiterführenden Schulen zwar zunächst Vorrang haben soll, dass es aber zukünftig gegebenenfalls bereits nach der fünften Klasse möglich sein soll, die Schüler wieder abzuschulen. Was dieser überraschende Vorschlag nun jedoch an Positivem bewirken soll, entzieht sich unserem Verständnis. Hier wird der bereits vorhandene Druck an den Grundschulen im Hinblick auf die Schullaufbahnempfehlungen massiv erhöht werden, jenseits von jeglicher Vorstellung pädagogisch sinnvoller Arbeit. Ebenso wird der Druck an den fünften Klassen der weiterführenden Schulen für die „nicht-empfohlenen“ Schüler massiv erhöht werden. Auch jetzt schon sind die Schulwechsel häufig problembeladen und auch gute, „empfohlene“ Schüler erleben aufgrund der Umstellungsschwierigkeiten zunächst teils drastische Notenabstürze. Auch der Nutzen einer vorgezogenen Abschulungsmöglichkeit ist nicht zu erkennen. Erstens wechseln die meisten Schüler freiwillig von den Gymnasien auf die Realschulen oder von den Realschulen an die Hauptschulen, wenn die Anforderungen sich als zu hoch erweisen, und zweitens finden die meisten Wechsel und Wiederholungen nicht nach der fünften Klasse statt, sondern erst in höheren Schuljahren.

Übrig bleibt der Eindruck, dass Schülern und Eltern der Wunsch nach einer Schulform, für die keine Empfehlung vorliegt, mit Drohgebärden ausgetrieben werden soll, denn: „nach schon einem Jahr werden wir uns vielleicht wieder trennen müssen!“. Übrig bleibt der Eindruck, dass hier mit aller Macht Schulstrukturen festbetoniert werden sollen, die sich selbst schon längst von innen zersetzt haben. Mit Zwangsmaßnahmen jedoch werden die Probleme des niedersächsischen Schulsystems nicht zu lösen sein.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Wulff, seien Sie versichert, dass der Landeselternrat für einen freien Elternwillen ohne Zwangsabschulungen weiter kämpfen wird. Hinsichtlich der wirklichen Herausforderungen und Probleme im Schulwesen sind wir jedoch gemeinsam mit allen anderen am niedersächsischen Bildungswesen Beteiligten jederzeit gesprächsbereit.

Mit freundlichen Grüßen

Für den Vorstand
Pascal Zimmer
Vorsitzender des 12. Landeselternrates

Hannover, 18. Dezember 2009

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Der Vorstand des 12. Landeselternrat, gewählt im März 2009